Montag, 6. März 2006

"Tu prendras le gout..."

2 Anfangsszenen : Ein Mann und eine Frau nützen scheinbar die Intimität eines Zugabteils für eine flüchtige Affäre. Doch der Eindruck täuscht, aus dem fasrigen Schwarz-Weiß des Bildes löst sich die Hand des Mannes und rammt sich auf die Brust der Frau, die langsam unter wiederholtem Zustechen ihr Leben aushaucht. Schnitt. Eine Einstellung wie aus einem handelsüblichen Thriller. Der selbe Mann, kniend neben einem in weißes Leinen gewickelten Körper. Der Mann beginnt ungezwungen Regeln zum Versenken von Leichen zu referieren. Kinder sind mit ihrem Eigengewicht zu beschweren, Zwergenwüchsige mit ihrem doppelten Eigengewicht, da ihre Knochen dichter sind. Wieder täuscht der Eindruck. Es handelt sich nicht etwa um einen Ermittler, der soeben eine Wasserleiche geborgen hat, sondern um Ben, (Anti-)Held der belgischen Produktion „C’est arrivé près de chez vous“ (1992) und er wird besagtes Bündel in Kürze versenken – ebenso wie noch zahlreiche weitere.
Gleich zu Beginn: Wir haben es mit einem revolutionären Film zu tun. Denn die Regisseure erreichen Rémy Belvaux und André Bonzel eine vollkommene Umwertung sämtlicher Dokumentarstilmittel indem sie das System des Genres von Seiten des dokumentierten Objekts aushebeln. CAPDCV tauscht schlicht und ergreifend eine der Variablen in der Gleichung eines typischen Dokumentarfilms aus und besetzt sie mit einem Tabu. Denn die Person die hier von einem Kamerateam begleitet wird, zeichnet sich durch eine außergewöhnliche Form des Broterwerbs aus: Ben tötet Menschen und raubt sie aus.
Die Grundfragen, die hier mit rabenschwarzem Zynismus gestellt werden, kennt man aus Diskussionen über Kriegsberichterstattung: Wie verhält es sich mit der Schuldigkeit des Beobachters, des Dokumentaristen? Fordert der Beobachter die Tat auch heraus? Die Antwort des Films ist eine doppelte: Mörder sind auch nur Menschen und Dokumentaristen sind auch nur Mörder. Denn auch wenn das Kamerateam zu Beginn noch versucht, objektive Distanz zu wahren, taucht es immer mehr in eine soziale Beziehung mit der Hauptfigur ein und wird so langsam nicht nur selbst zum Inhalt des eigenen Dokumentarfilms, sondern darüber hinaus auch zum Mittäter von Bens Handlungen. Selbst wenn der Tonmann über den Haufen geschossen wird: Dies sind eben die Gefahren der Arbeit und um selbige fertig zu stellen, werde man weiter arbeiten. Ungereimte Unschuldigkeitsbekundungen, die sich in keinster Weise von jenen des Mörders selbst unterscheiden. Vielmehr ist es diese Auffassung des eigenen Tuns als „Arbeit“ die das Team auf die gleiche Stufe mit dem Mörder stellt, welcher mit dem selben Argument den Mord an einem Kind rechtfertigt: Es sei nicht angenehm, aber eben unausweichlich.
Wer bei dieser Hinterfragung der Medienberichterstattung an Oliver Stones Natural Born Killers erinnert wird, liegt nicht gänzlich falsch. Jedoch geht CAPDCV ein Stück über Stone hinaus, die selben ethischen Grundfragen werden hier noch radikaler und provokanter gestellt und so auf eine neue Ebene gehoben. Denn die Reflexionen über die Genese der Gewalt und ihre Darstellung als Folge soziologischer Missstände fehlen hier völlig. Diese Figur ist, ebenso wie das Kamerateam, Exponent einer unauffälligen Mittelschicht – Das Biest Mensch eben, gefilmt in freier Wildbahn.

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assotsiationsklimbim - 7. Mär, 09:19

a.) "denn die regisseure rémy belvaux und andré bonze erreichen" "die person, die hier"
b.) ad "intimität eines zugabteils": dirk stermann erzählte mal davon, seine erste und einzige interrailreise und da mußte er mal in ein paar hundert zugkilometern "eine flüchtige affäre" durchmachen, das klang nicht nach spaß, seiner schilderung nach.
c.) interessant klingt der film. führt die videothek meines vertrauens aber wohl kaum.

creekpeople - 7. Mär, 11:30

a) 'zeihung
b) eben
c) werden wir wohl importieren müssen. Hiermit seien Sie herzlich zu einem Filmabend im Juli eingeladen...

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