Sonntag, 15. Oktober 2006

All das wollten Gieseking und José, schon aus Gewohnheit, gut finden

Neues von den Toten: Moritz von Uslars Debutroman oder alt werden ist gar nicht so schlimm



"Man mußte doch heute leben! Und dann kam ihm dieser Gedanke - heute leben - auch schon wieder unwahr, ausgedacht, geheuchelt vor, schlicht deshalb, weil er ihn schon zu oft gedacht hatte."

Die Einwände sind zwar bekannt, aber so schnell referiert, dass wir uns das doch glatt mal gönnen: Die P-Wort Schnöselchen/Zeitungsfritzen haben doch eigentlich eh nie was drauf gehabt und sind zynisch und arrogant und vorbei und tot. Nunja. Und dann schreibt er mit Mitte 30 einen Debutroman über einen Protagonisten, der Journalist und Mitte 30 ist und einen Debutroman schreibt und die Probleme hat, die so Figuren halt so haben: Freundin ist weg, klassiche Musik beginnt ihm zu gefallen und am Ende stirbt man dann auch noch. Nunja.

"Nichts war klar, alles musste jeden Tag von neuen, mit heißem Herzund kühlem Verstand, mit Ruhe und Zuversicht gesichtet, musste begriffen und in den Griff gebracht werden."

Nach dem Mesopotamiabeitrag hatten wir uns ja schon Großes erwartet und tatsächlich sind es mit 192 auch unter 200 Seiten geworden, wie es sich gehört. Keine davon ist neu, aber nichts anderes als die Großen Fragen des Echten Lebens wollen wir verhandelt wissen: a.) Warum geht das Erwachsenwerden in Würde und Pop nicht? b.)
Warum können wir nicht unendlich lange dagegen sein? Warum eigentlich gar nicht? c.) Wie soll das bitte gehen mit den anderen Menschen / LebensabschnittspartnerInnen? Ist vielleicht gar die große Böse Maschine schuld daran, dass das nichts mehr wird (= Houelle-These)?

Wir lesen also: Die Schönheit des Vorbeisein, die Schönheit des Vorbeiseins, das man noch nicht bemerkt hat, die Art von Verschwinden. Schmerz und Pose, noch ein Bier oder fünfzehn, Schläue, die guten, bösen alten Lieder, die Dinge, die niemals vorbei sein sollten. Dann ist es halt doch vorbei und dann ist das halt so. Am Ende hast du gar nicht gemerkt, was der gerade gemacht hat: Das P-Wort gerettet, nicht weniger. Dann erst erwachst du aus wie aus einem langen, bösen Traum und denkst: Wahnsinn, dass der das jetzt machen kann (jedes Wort außer "dass" einzeln in italics).

"Und Gieseking verstand, dass sein ganzes Denken darauf angelegt war, dass die anderen - die mit der Gegenposition - in der Mehrheit waren. Sein Standpunkt, sein Denken funktionierten überhaupt nur deshalb."


Wie es sein soll, ist auch von Uslars Sound so gut, dass man den immer nachmachen will, dass man gute Laune kriegt. Das kannst du nicht kaufen, das musst du langwierig kollektiv entwickelt und perfektioniert haben. Diese Art zu schauen, zu reden, rumzustehen, zu rauchen, die nie langweilig oder blöd wird und nie sterben kann, oder naja, das halt am Ende doch. Aber wenn man das liest, kann man wieder schneller und besser denken, für 200 Seiten ist der Text der beste Text der Welt, für 200 Seiten ist das unsterblich, 200 Seiten, in denen alles gesagt ist, was zu sagen ist. Ganz ähnlich wie bei diesen anderen Dingen, die für zwei bis dreizwanzig Minuten das Wichtigste der Welt sind, was war das nochmal.

Moritz von Uslar: Waldstein oder Der Tod des Walter Gieseking am 6. Juni 2005. 192 Seiten, Köln, Kiwi, 2006

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